Zehn Jahre nach dem dritten EU-Energiepaket, dem vorläufig letzten Schritt der Liberalisierung des Strom- und Gasmarkts, scheint der Energiesektor in Deutschland in Sachen Wettbewerb nun stärker auf Touren zu kommen. Allzu oft wurde noch in den althergebrachten Mustern von Groß gegen Klein gedacht, anstatt sich der wahren Herausforderung der Zukunft zu stellen: der Digitalisierung aller Bereiche der Energiewirtschaft. Auf diese Herausforderungen kann die Antwort nur lauten: schneller, unabhängiger und kundenzentrierter werden.
Die vergangenen Jahre haben die Herausforderungen für die Wettbewerber größer werden lassen. Nicht mehr nur der Konkurrenzdruck durch neue Anbieter an sich, sondern vor allem schwächelnde Ertragsmodelle und die neue Generation der »digital-born« Konsumenten fordern die Anpassung der ganzen Branche. Zusätzlich setzen auch die Ausrichtung der Energiewirtschaft auf ein höheres Maß an Klimaverträglichkeit und CO2-Effizienz sowie die vielfältiger werdenden Kundenwünsche Unternehmen unter Handlungsdruck. Wichtiger denn je wird es sein, sich als Unternehmen im Energiesektor zu spezialisieren. Nach dem Unbundling der Lieferanten- und Netzrolle wurde nun der Messstellenbetreiber auf politische Initiative hin ausgegliedert. Eine solche Spezialisierung bringt jedoch eigene Herausforderungen mit sich, denn die Ansprüche an Spezialisten sind höher. Fehlende Effizienz und wenig nachhaltige Investitionen lassen sich für Spezialisten nicht mehr ohne Weiteres durch wirtschaftlichen Erfolg in anderen Marktbereichen kompensieren. Die konsequente Weiterentwicklung und Spezialisierung der Marktrollen ist aber nicht nur wirtschaftspolitisch gewollt, sondern auch strukturell notwendig, soll die Energiewende und der Umbau der Netze hin zu mehr dezentraler Versorgung und klimaschonender Energieerzeugung gelingen. Damit einher geht auch der Bedarf, eigene Systeme zu flexibilisieren und zu öffnen, um fit für die Zukunft zu sein.
Im Kleinen ganz groß
Die Marktliberalisierung hat dafür gesorgt, dass es heute deutlich mehr Anbieter gibt. Gleichzeitig ist aber auch ein neues Interesse an lokalen, kommunalen und gemeinschaftlichen Formen der Energieerzeugung und -versorgung entstanden. Die Nachfrage nach dezentraler Energie bringt für viele Marktteilnehmer neue Aufgaben mit sich, die erfüllt werden müssen. Kunden, die mit eigenen Solarpanels auf dem Dach selbst zum Energieproduzenten werden und Genossenschaften, die eigene kleine Heizkraftwerke oder Biogasanlagen betreiben, brauchen Energieunternehmen an ihrer Seite, die Partner sind und weniger anonymer Konzern.
Die Öffnung der Netze und Leitungen für diese lokalen und dezentralen Aufgaben kann nur gelingen, wenn die Unternehmen sich weiterentwickeln und selbst mehr Flexibilität und Offenheit zulassen – sei es im Unternehmen direkt, vor allem aber in der Gestaltung ihrer Produkte und Dienstleistungen. Die Energieversorger und Netzbetreiber, die sich konsequent in ihrer Marktrolle weiterentwickeln und dabei zum Unterstützer ihrer Kunden werden, erweisen sich in Zukunft zum unverzichtbaren Teil der Energiewirtschaft. Denn die Kunden haben gerade erst begonnen, ihre herausragende Stellung im Energiemarkt zu begreifen, und sie beginnen, immer mehr einzufordern.
Die Ansprüche steigen
Die Digitalisierung sorgt auch im Markt für Strom, Gas, Wasser und Wärme für neue Ansprüche der Kunden an ihre Versorger. Immer mehr Verbraucher wünschen sich, schnell und unkompliziert mit dem Anbieter in Kontakt treten oder Daten ändern zu können sowie individuelle Angebote zu erhalten. Vorbei sind die Zeiten, in denen der einzige Kontakt mit dem Unternehmen beim Umzug in eine neue Wohnung war. Für das steigende Verlangen nach mehr Kundenorientierung vonseiten der Energieversorger muss dem Ausbau der Digitalisierung der Marktrolle Lieferant auch die Digitalisierung der Marktrolle Netz konsequent weiter fortgesetzt werden. Smart Meter und intelligente Netze schaffen die Möglichkeit für eine sekundengenaue Auskunft gegenüber dem Kunden, vorausgesetzt das Unternehmen erkennt die Notwendigkeit, interne Abläufe und Strukturen, sowohl technischer wie auch personeller Natur, konsequent auf Kundennähe hin umzubauen. Prozesskosten können auch im Netz in erheblichem Umfang reduziert und die Kundenzufriedenheit mit einer schnelleren fallabschließenden Bearbeitung optimiert werden, so zum Beispiel bei der Abrechnung oder durch einen digitalen Hausanschlussprozess.
Nicht nur Energie liefern, sondern Emotionen
In Zeiten steigenden Preisdrucks werden diejenigen Anbieter auf dem Energiemarkt besonders erfolgreich sein, denen es gelingt, die Energieversorgung beim Kunden mit Emotionen zu verknüpfen. Was bei Mobilfunkanbietern schon länger gang und gäbe ist, wird auch für den Energielieferanten immer wichtiger: das Bündeln von eigentlichen Produkten mit zusätzlichen Services und Angeboten.
Wenn man zum neuen Stromtarif auch gleich noch ein vergünstigtes Netflix-Abo dazubekommt, wird man mit anderen Gefühlen auf die Steckdose schauen. Gerade Strom, aber auch andere Formen der Energie, leiden unter dem Problem, dass die Kunden das fertige Gut nicht sehen, geschweige denn in der Hand halten können und kaum positive Emotionen damit verbinden. Genau dies kann durch das Bündeln des Angebots aber gelingen, wenn das Hinzubuchen, Ändern und Abrechnen der Zusatzfeatures und -produkte komfortabel gestaltet und attraktiv präsentiert wird.
Herausforderungen zum Gestalten nutzen
Seit den ersten Bemühungen um eine Liberalisierung des Energiemarkts ist einige Zeit vergangen. An neuen Herausforderungen durch Energiewende und Digitalisierung mangelt es nicht. Gleichzeitig war die Zeit nie reifer für konsequente Neuausrichtungen und Spezialisierungen – hin zu mehr Freiheit in den Netzen, mehr Flexibilität in den eigenen Systemen und vor allem hin zu mehr Kundennähe.
Veröffentlicht: EW – Magazin für die Energiewirtschaft | 2 | 2020 | www.ew-magazin.de